Dienstag, 29 Mai 2018 09:26

Heimat

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s36 Marienberger Gesprache Martin Geier„Die drei Ordnungen - das Weltbild des Feudalismus“ ist ein bekanntes Buch des französischen Historikers und Mittelalterforschers  Georges Duby aus dem Jahre 1986. Nach seiner Auffassung bestand die mittelalterliche Gesellschaft aus drei Ordnungen bzw. drei Ständen: Bet-, Wehr- und Nährstand. Nach dieser „Drei-Stände-Ordnung“ gab es für einen jungen Mann drei Wege und ganz klare Rollen: er konnte Priester, Soldat oder Bauer werden und musste in der jeweiligen Rolle entweder beten, kämpfen oder arbeiten.

Es gab wenig Spielraum, denn durch die Geburt war vieles vorgegeben, für Frauen noch mehr als für Männer. Die meisten blieben Bauern und mussten gehorchen und arbeiten, während der Klerus und der Adel für das Herrschen, Beten und Kämpfen zuständig waren. Diese Ordnung setzt Hierarchie  und Ungleichheit voraus. Von Heimat war in dieser Zeit nicht die Rede. Durch die Aufklärung und die Einführung der Menschenrechte hat sich vieles verändert, zumindest in der westlichen Welt. Die Freiheit des Individuums, seine Selbstverantwortung, das Streben nach Glück und Selbstverwirklichung gehören zum Menschenbild der modernen Welt. Die ganze Welt steht uns offen, wir können selbst entscheiden, welchen Beruf, welchen Lebenspartner und welchen Wohnort wir wählen. Diese Freiheit führt auch zu Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Die Globalisierung, die Digitalisierung und der schnelle Wandel auf allen Ebenen führen zu Unübersichtlichkeit und Verlorenheit. In dieser Situation wird ein alter und vielfach vorbelasteter Begriff neu belebt: Heimat. Deutschland hat ein Heimatministerium, Heimat als Rückzugsort, als Ort der Sicherheit und Freiheit, der Zugehörigkeit, Heimat als vertraute Gemeinschaft von Menschen. Heimat als Gefühl von Geborgenheit. Heimat als vertrauter Ort der Kindheit, als Dorfgemeinschaft, als Region oder gar als Nation und Vaterland. Vielleicht kann sogar Europa oder die Welt Heimat sein. Der Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, meint, dass „Glaube eine stärkere Heimat ist als Landschaft, Tradition oder Sprache“. Für andere liegt Heimat in der Zukunft, als Ort der Sehnsucht und der Träume. Heimat als Utopie. Der deutsche Grünen-Chef Robert Habeck möchte Heimat als Raum begreifen, in dem wir leben und den wir zusammen gestalten, ganz gleich wo wir herkommen. Dabei geht es um Beheimatung und Heimatrecht, auch für Fremde. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch möchte in seiner Utopie die Welt in Heimat umbauen: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

23. Marienberger Klausurgespräche zum Thema Heimat
In der Fremde ein Zuhause finden, digitale Heimat, Heimatgefühl und Staatswesen

Vom 22. bis 24. März 2018 trafen sich rund 50 Personen im Benediktinerkloster Marienberg zu Vorträgen und Diskussionen zum Thema Heimat. Dabei ging es nicht darum einen Heimatbegriff herauszuarbeiten, sondern sich der Vielschichtigkeit des Begriffes bewusst zu werden. Der letzte Tag der Klausurgespräche begann mit einer Meditation in der Krypta. Der Moraltheologe Martin Lintner verortete Heimat im Spannungsbogen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit führt zurück in die Kindheit, in eine verklärte Heimat, die es vielleicht gar nie gegeben hat bis in den Mutterleib. Die Zukunft besteht aus der Sehnsucht nach einem zukünftigen Paradies auf Erden oder im Jenseits. In den drei Hauptreferaten beschäftigten sich drei Persönlichkeiten mit dem Thema aus ihrer ganz unterschiedlichen  Lebensbiografie. Doron Rabinovici, der Schriftsteller, Essayist und Historiker ist in Israel geboren, lebt in Wien, wollte aber nie ein Wiener Jude werden. Seine Mutter ist in Paris geboren und wuchs in Vilnius, der Hauptstadt von Litauen, auf. Sein Vater stammt aus Rumänien. In Israel lernten sich seine Eltern s36 marienberger Gesprache 2kennen. In seiner Schulzeit sah er sich als Andersartiger wahrgenommen, in Wien wurde er nicht heimisch. Die Diaspora, die Verstreutheit über die ganze Welt, hat die Juden zu heimatlosen Gesellen gemacht, die überall in der Fremde ein Zuhause finden müssen, die sich anpassen müssen, ohne sich dem Eigenen zu entfremden. Mit dem Begriff Heimat kann Rabinovici  wenig anfangen, lieber spricht er von Identität. Doch ein Leben in der Fremde ist nicht nur das Los der Juden. Migration ist die eigentliche Kontinuität menschlicher Geschichte und jede Kultur von Anfang an Assimilation. War denn nicht kulturelle Vielfalt seit jeher der Normalzustand aller Gesellschaften, fragte Rabinovici. Heute leben wir nach Rabinovici alle in einer globalisierten, elektronischen und multimedialen Diaspora.
Anna Grebe, die Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaftlerin aus dem Schwarzwald, die in Berlin lebt, sprach über das digitale Netz als mögliche digitale Heimat. Heimat ist, wo ich über mein W-Lan automatisch mit dem Internet verbunden bin. Die digitale Gemeinschaft dient nicht nur zur Kommunikation und zum Erfahrungsaustausch, sie kann auch Halt geben und die virtuelle Realität zu einem sozialen Raum  bzw. zu einem weltweiten Solidarnetz machen. Das Internet ist eine Möglichkeit, in eine andere Persönlichkeit zu schlüpfen, ein Avatar von sich selbst zu erschaffen und sich so zu geben und auszudrücken. In der Diskussion war viel von Kontrollverlust, Realitätsverlust und Manipulation die Rede. Nach Grebe gibt es keine digitale Heimat, aber vielleicht entwickelt sich ein digitales Brauchtum und andere Formen, so dass man nicht mehr so klar zwischen dem realen und dem digitalen Leben unterscheiden kann.
Kaspar Villinger, Schweizer Unternehmer und Politiker, ehemaliger Bundesrat und Bundespräsident, beschäftigte sich mit dem Thema Staat, Wirtschaft und Heimat. Die Hauptaufgabe des Staates ist es, mündigen Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen. Dazu braucht es: Freiheit, Wohlstand, politische und fiskalische Stabilität und Sicherheit. Wenn ein Staat dies garantiert, kann so etwas wie Heimat entstehen. Der zunehmende Vertrauensverlust gegenüber Wirtschaft und Politik kann weitreichende Folgen haben.  Heimat als Ort der Sicherheit und Geborgenheit kann nach Villinger am besten ein Nationalstaat mit föderalistischen Strukturen garantieren. Die regionale Ebene ist zu klein, die EU ist gescheitert, eine transnationale europäische Identität zu schaffen. Der Nationalstaat als Wertegemeinschaft, nicht als ethnische Volksgemeinschaft, kann Freiheit und Sicherheit garantieren. Deshalb kann jedermann Teil dieser Nation sein, sofern er die Grundwerte teilt. Villinger spricht von der Janusköpfigkeit des Begriffs Heimat: er kann Geborgenheit und Sicherheit, aber auch Abgrenzung, Überlegenheit und Beschwörung einer imaginären vergangenen heilen Welt bedeuten. Er plädierte am Ende seines Referates für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft als Grundlage eines erfolgreichen Staates.

Heinrich Zoderer

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