Dienstag, 28 Oktober 2014 00:00

„Es ist Frühling, und ich lebe noch“ - Ein schönes Buch über den Ersten Weltkrieg

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s29 Titelbildvon Heinrich Zoderer

Es gibt viele Bücher über den Ersten Weltkrieg. Sie berichten über Schlachten, Gebirgskriege, Stellungskriege, über die Ursachen, den Verlauf des Krieges und warum dieser Krieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war. Kyra Waldner aus Laas hat mit Marcel Atze ein ganz anderes Buch über den Ersten Weltkrieg herausgegeben.

Es ist ein Bildband mit verschiedenen Essays über Einzelschicksale und persönliche Kriegserlebnisse. Infinitive bilden das Inhaltsverzeichnis: Aufzeichnen, Dichten, Fotografieren, Gefangen, Kommunizieren, Komponieren, Kriegsberichterstatten, Lesen, Lieben, Malen, Mustern, Pflegen, Sterben, Versorgen, Verweigern und Zensieren. Erzählt wird von Ängsten und Hoffnungen, vom Überleben und vom Sterben.
s29 Vater unser-Hans WeiglKyra Waldner arbeitet in der Wienbibliothek im Rathaus, einer der drei größten wissenschaftlichen Bibliotheken Wiens. Dort gibt es eine Handschriftensammlung mit 250.000 Autographen, d.h.  Manuskripte, Briefe, Dokumente und private Archivmaterialien aus dem kulturellen Leben Wiens von 1750 bis heute. Die Herausgeber haben sich auf Spurensuche gemacht und persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Postkarten, Fotos, Verwaltungsakte, Zeichnungen und Gedichte aus dieser Zeit durchforscht und nach den Lebensgeschichten dahinter gesucht. Beim Durchlesen bin ich auf interessante Geschichten und tiefe emotionale Ereignisse gestoßen. Nachfolgend einige Beispiele:
Am Anfang war die Kriegsbegeisterung sehr groß. 50.000 Kriegsgedichte wurden täglich im deutschsprachigen Raum an Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften gesandt. Es waren Marschlieder, Soldatenlieder, Trutz- und Mahnlieder. „Hurra, nun ist es an der Zeit. Nun stehen wir all fürs Reich bereit. Wie heißt die Losung? Mann an Mann. Wie heißt der Feldruf? Drauf und dran.“(S. 50) Viele Soldaten s29 lempruchs29 SpendenSoldatenhaben ein Tagebuch geschrieben. Das war ein wichtiges Instrument, um die schrecklichen Erfahrungen und Ängste irgendwie zu verarbeiten. Viele technische Erneuerungen wurden in diesem Krieg eingesetzt: die Eisenbahn, das Flugzeug, das Telefon und die Fotografie. „Die Aufnahmen von Kriegsgefangenen dokumentieren stets ein Machtgefälle, sie bringen bildlich die Überlegenheit der eigenen Truppe zum Ausdruck, die Fotos beweisen die Niederlage des Kriegsgegners.“(S. 81)  Viele Kriegsgefangene planten die Flucht, verschwanden zu zweit, zu dritt. Viele kehrten, halbtot geprügelt, in die Lager zurück. Einige wurden erschlagen, niemand erfuhr je von ihrer letzten Stund. Im Gefangenenlager wurde Theater gespielt und es wurden Lieder gesungen. „Mit dem Feldmesser wurde eine Geige und eine Gitarre geschnitzt“ (S.120) Erzählt wird von den Fußmärschen der Kriegsgefangenen, der Ungewissheit, der Kälte, der Nässe, dem Hunger, den Toten und Verwundeten, der Einsamkeit, der Sehnsucht nach der Heimat. „Ich kam in einen Schusterladen betteln und habe der Frau einen Esslöffel gestohlen, der mir von riesig großer Bedeutung war, um nämlich auf einmal Suppe essen zu können. Es wurde von nun an als mein höchstes Gut betrachtet. Wer keinen Löffel hatte, der musste immer Hunger leiden.“ (S. 132). Im Buch ist ein beeindruckender Brief abgebildet, den Moritz Erwin von Lempruch, der Kommandeur der Ortlerfront an Karl Kraus, den Herausgeber der Fackel geschickt hat. Die Frau, die glaubt, dass ihr Mann gefallen sei, erwartet von einem anderen Mann ein Kind. Sie bittet in dem Brief ihren Mann um Verzeihung und hofft, dass das Kind stirbt, denn dann ist alles wieder gut. Sehr nachdenklich macht das abgeänderte Vaterunser eines elfjährigen Jungen, der sich nur wünscht, dass sein Vater nach Hause kommt. „Vater unser, der Du bist in Russland. Eduard ist Dein Name, komme bald nach Deutschösterreich, bezahle unsere Schulden, gib uns unser täglich Brot, führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns vom Übel des Alleinseins. Dein Sohn Hans.“ (S. 165) Im Buch werden Überlegungen gemacht, an die man gar nicht denkt. „Man meint, das Hauptziel des Krieges sei es zu töten. s29 BriefFrauDoch weit gefehlt. Etliche moderne Waffen, wie etwa Minen haben gar keinen primären Tötungsauftrag. Sie sollen vielmehr verletzen. Denn jeder möglichst schwer Verwundete bindet bis zu fünf Soldaten, die nicht weiterkämpfen können, weil sie den noch lebenden Soldaten versorgen oder in Sicherheit bringen.“ (S. 297) Die Eltern oder Angehörigen der gefallenen Soldaten erhielten kurze Mitteilungen über den „heldenhaften“ Tod ihres Sohnes. Der Schmerz über den Verlust war noch größer, weil es keinen Ort gab, um den Toten zu beweinen. Viele blieben vermisst, viele kamen in ein Massengrab. Für viele gab es nie die Möglichkeit, Abschied zu nehmen oder zu erfahren, wo und wie ihre Angehörigen gestorben sind. „Schmerzlich war es mir, das Grab meines Kindes in fremder Erde in einem Gebiet zu wissen, das in Feindesbesitz geraten war.“ (S. 351) Gleich in den ersten Kriegsjahren wurden Spenden gesammelt und Geschenkspakete an die Frontsoldaten verschickt. „Mit allen nur erdenklichen Sachen, die in Kartons verpackt waren, wurden die Kriegsgefangenen bedacht. Warme Hosen, Hemden, Socken, Leibbinden, Handschuhe und Fäustlinge, Haus- und Strapazschuhe, Essschalen und Löffel, Zwirn und Nähnadeln, Zahnbürsten und Seifen enthielten diese Kartons, ja selbst auf das in Russland hochwichtige Läusepulver hatten unsere fürsorglichen Mitmenschen in der Heimat nicht vergessen. Für viele war es der letzte Lichtblick, der ihnen in diesem Jammertal noch beschieden war.“ (S. 396) Am Ende des Buches wird von der Zensurgruppe berichtet. 1300 Zensoren, die dem Kriegsministerium unterstellt waren, kontrollierten täglich 300.000 Briefe. Was für ein Aufwand! Viele überlebten den Krieg nicht, viele kamen verwundet zurück und viele kamen verändert zurück und fanden sich nicht mehr zurecht. Die Rückkehr war eine Konfrontation mit der grausamen, schonungslosen Wahrheit: „Mein Vater tot, mein Sohn liegt draußen bei den anderen, die man Helden nennt. Gott sei Dank, mein Weib lebt. Nun eile ich zu ihr, der Vielgeprüften, um ihr die Hälfte der schweren Bürge abzunehmen.“ (S. 125)

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