„Robust und bodenständig“
Links: Dr.Harald Tappeiner, Psychologe und Psychotherapeut im Zentrum für psychische Gesundheit in Schlanders,- Psychiatrischer Dienst, Gesundheitsbezirk Meran. Rechts: Dr.Stefano Egidi, Psychiater und Psychotherapeut, Leiter des Zentrums für psychische Gesundheit in Schlanders – Psychiatrischer Dienst, Gesundheitsbezirk Meran.
Vinschgerwind: Herr Egidi, Herr Tappeiner – wie steht es um das Seelenheil bzw. die Psyche der Vinschger und Vinschgerinnen?
Stefano Egidi: Die psychische Gesundheit im Vinschgau ist durch typische Herausforderungen ländlicher Regionen geprägt – soziale Isolation, begrenzte Freizeitangebote und eine gewisse Zurückhaltung Hilfe zu suchen. Der zunehmende Konsum von Substanzen, insbesondere Kokain, verschärft die Problematik und erschwert die Behandlung. Positiv hervorzuheben ist die enge Zusammenarbeit mit dem Dienst für Abhängigkeiten und den sozialen Diensten der Bezirksgemeinschaft, die eine abgestimmte Versorgung ermöglichen.
Harald Tappeiner: Die psychische Gesundheit im Vinschgau ist eng mit den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen des Tales verknüpft und kann grundsätzlich eher als robust und bodenständig eingeschätzt werden. Diese Eigenschaften können helfen, Krisen zu bewältigen, führen aber auch dazu, dass psychische Probleme oft lange verborgen bleiben. Wissenschaftliche Studien belegen, dass stabile familiäre Bindungen und ein unterstützendes soziales Umfeld entscheidende Schutzfaktoren für die seelische Gesundheit darstellen (COP-S Studie 2025, Institut für Allgemeinmedizin Bozen). In der psychologischen Arbeit im Vinschgau wird daher großer Wert auf die Einbindung von Angehörigen gelegt. Das Ziel unseres therapeutischen Ansatzes ist nicht nur die Linderung von Symptomen, sondern die Wiederherstellung von Selbstwirksamkeit – also dem Gefühl, das eigene Leben aktiv gestalten zu können. Dieser Empowerment-Gedanke ist zentral für unsere Arbeit: Menschen sollen wieder spüren können, dass sie Einfluss auf ihr Leben haben. Psychologische Hilfe im Vinschgau ist persönlich und auf die Stärken der Menschen ausgerichtet. Sie soll helfen, Symptome zu reduzieren, zu stabilisieren, das Selbstvertrauen zu stärken und besser mit Belastungen umzugehen.
Vinschgerwind: Suizide, auch unter jungen Menschen, sind im Vinschgau schon länger Thema. Wie hat sich dieses Phänomen in den letzten Jahren entwickelt, bzw. was hat man getan, um vorzubeugen?
Harald Tappeiner: Die Suizidprävention in Südtirol hat in den letzten Jahren deutlich an Struktur und Sichtbarkeit gewonnen. Der neue Suizidpräventionsplan 2026–2030 setzt auf neun Aktionsfelder, darunter Sensibilisierung, Medienarbeit und Krisenintervention (Caritas Südtirol). Besonders wichtig ist die Früherkennung von Risikofaktoren wie Depression, Sucht oder soziale Isolation. Im Vinschgau arbeiten wir mit einem Netzwerkansatz: Psychologische - Hilfe, medizinisch-psychiatrische Versorgung und soziale Maßnahmen greifen ineinander. Die Stärkung der Hoffnung und der Selbstwirksamkeit (Unterstützung der Patienten mit den eigenen psychischen Problemen aktiv umzugehen und das eigene Leben wieder selbstbestimmt zu gestalten) sowie das Wiederentdecken innerer Ressourcen sind anerkannte zentrale Elemente der Prävention. Zudem wird mit unterschiedlichen telefonischen Hilfsdiensten wie z.B. dem Psychologischen Krisentelefon (Grüne Nummer 800 101 800) versucht, die Hemmschwelle zur Hilfe zu senken – insbesondere bei Männern, die statistisch häufiger betroffen sind. Infos unter: https://infopoint.bz/notfallkontakte/
Vinschgerwind: Als Leiter des Zentrums für psychische Gesundheit haben Sie Einblick – sind die Strukturen die psychische Gesundheit den Vinschgau betreffend ausreichend und zeitgemäß?
Stefano Egidi: Der psychiatrische Dienst in Meran und Vinschgau ist besonders organisiert: Er bietet eine vollständige Kontinuität zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Diese Struktur erlaubt eine individuelle, langfristige Betreuung und erleichtert Übergänge zwischen Krankenhaus und Gemeinde. Die Netzwerkarbeit mit den Diensten der Bezirksgemeinschaft und dem Dienst für Abhängigkeiten stärkt die Versorgung zusätzlich und ermöglicht eine ganzheitliche Betreuung – insbesondere bei komplexen Fällen mit Suchtproblematik. Im Vinschgau besteht ein Personalmangel; wir sind häufig unterbesetzt, da es nicht einfach ist, Ärzte, Pflegekräfte und andere medizinische Fachkräfte zu finden, die im Vinschgau arbeiten möchten. Obwohl die Recruitmentabteilung des Sanitätsbetriebes sich sehr um diese Suche bemüht. Was die Einrichtungen betrifft, könnten wir uns eher etwas wie Tagesstätten vorstellen, in denen Patienten auch mit geringem Aufwand in Rehabilitationsmaßnahmen einbezogen werden können.
Vinschgerwind: Man sagt, der Psychologe habe den Pfarrer ersetzt. Was sagen Sie dazu?
Harald Tappeiner: Der Psychologe hat den Pfarrer nicht ersetzt, sondern eine andere Aufgabe übernommen: die professionelle Behandlung psychischer Probleme. Während Psychologen mit therapeutischen Methoden innere Prozesse verändern, begleitet die Seelsorge durch Gebet, Rituale und spirituelle Deutung.
Die Psychologie zielt speziell in der Psychiatrie auf die Linderung psychischer Symptome (Reduktion von Angst, Depression, Wahnvorstellungen, Zwangsgedanken, etc.), die Förderung von Selbstregulation und die Wiederaufnahme von Aktivitäten. Die Seelsorge hingegen verfolgt spirituelle Heilung, Sinnfindung, Versöhnung und die Stärkung der Beziehung zu Gott.
Pfarrer, SeelsorgerInnen bleiben weiterhin wichtig für Spiritualität, Sinnfragen, Gemeinschaft und Rituale – und als Gesprächspartner in Krisen. Fuer viele unsere Parientinnen ist die Spiritualitaet eine sehr wichtige hilfreiche Kraftquelle, speziell in schweren leidvollen Krisen und Phasen ihres Lebens.
Vinschgerwind: Psychiatrie und Medikamente: der ausufernde Konsum von Psychopharmaka wird zunehmend als “legaler Drogenkonsum“ bezeichnet. Was sagen sie dazu? Und ist „Chemie“ immer die beste Wahl?
Stefano Egidi: Psychopharmaka sind ein wichtiges therapeutisches Mittel, aber kein Allheilmittel. Der Begriff „legale Drogen“ verkennt ihren medizinischen Nutzen und trägt zur Stigmatisierung bei. Gerade bei komorbiden Störungen mit Substanzkonsum ist ein differenzierter Einsatz entscheidend. Medikamente sollten immer eingebettet sein in ein umfassendes Behandlungskonzept, das auch psychotherapeutische, soziale und suchtmedizinische Komponenten umfasst.
Vinschgerwind: Die Psyche betreffende Themen sind seit Jahren in aller Munde, Psychopharmaka ein Milliardengeschäft. Was hat das gebracht und warum steigen die Zahlen, zB. in punkto Depression, ständig weiter?
Stefano Egidi: Die Zunahme psychischer Erkrankungen hat viele Ursachen: gesellschaftlicher Druck, digitale Überforderung, aber auch der steigende Konsum von Substanzen wie Alkohol und Kokain. Gleichzeitig ist die Diagnostik besser geworden und die Bereitschaft, Hilfe zu suchen, gestiegen. Die Herausforderung liegt darin, nicht nur Symptome zu behandeln, sondern auch strukturelle Ursachen anzugehen – etwa durch Prävention, Aufklärung und eine enge Vernetzung aller beteiligten Dienste.
Harald Tappeiner: Die Zunahme psychischer Erkrankungen wie Depressionen ist ein globales Phänomen, das auch Südtirol betrifft. Der Vinschgau bildet hier keine Ausnahme. Die Ursachen sind vielfältig: gesellschaftlicher Druck, soziale Entfremdung, wirtschaftliche und andere Unsicherheit und digitale Einflüsse. Nicht zu unterschätzen sind Instabilitäten und Brüche in Beziehungen. Psychopharmaka können bei schweren Depressionen hilfreich sein, insbesondere zur Stabilisierung in akuten Phasen. Eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Psychotherapie erzielt oft die besten Ergebnisse. In unserer Arbeit im Vinschgau setzen wir auf einen ressourcenorientierten Ansatz: Therapie bedeutet nicht nur Symptomfreiheit, sondern die Wiedererlangung von innerer Balance und Selbststeuerung. Bewegung, soziale Kontakte und strukturierte Tagesabläufe sind ebenso wichtig wie Medikamente – und oft nachhaltiger. Die steigenden Zahlen sind auch Ausdruck einer wachsenden Sensibilität: Menschen sprechen heute offener über psychische Belastungen und suchen häufiger Hilfe. Das ist ein Fortschritt – auch wenn die Herausforderungen groß bleiben.