Pestizidprozess in Südtirol: 1374 Anzeigen gegen Karl Bär zurückgezogen – zwei Brüder erhalten Strafanträge aufrecht

München/Bozen, 12. Juli 2021: Der Pestizidprozess in Südtirol geht unter veränderten Vorzeichen weiter: 1374 Personen haben ihre Anzeigen gegen Karl Bär, Referent für Agrar- und Handelspolitik am Umweltinstitut München, zurückgezogen. Da jedoch zwei Landwirte ihre Anzeigen aufrechterhalten, wird das Verfahren gegen Bär wegen angeblicher übler Nachrede fortgesetzt.

Mit der Rücknahme der Anzeigen reagierten die Landwirt:innen auf das im Juni 2021 erneuerte Angebot Bärs aus dem Herbst 2020, den Inhalt der im Zuge des Gerichtsprozesses beschlagnahmten und ausgewerteten Betriebshefte zum Pestizideinsatz gemeinsam zu diskutieren. In einem offenen Brief an Landesrat Schuler und die Obstwirtschaft hatte Bär am 23. Juni angekündigt, eine Rücknahme der Strafanträge auch dann zu akzeptieren, wenn zwei davon aufrechterhalten werden und das Verfahren weitergehe. Das Umweltinstitut sei nach wie vor bereit, die Ergebnisse der Auswertung der Betriebsdaten auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Obstwirtschaft in Südtirol zu präsentieren und zu diskutieren. 

"Wir wollten die Diskussion um den Pestizideinsatz in Südtirol nie im Gerichtssaal führen", betont Bär.  ”Die Südtiroler Obstwirtschaft und Landesregierung haben immer wieder versucht, Kritik am Pestizideinsatz gerichtlich zu verfolgen. Das ist nie gelungen. Auch die von Landesrat Arnold Schuler 2017 öffentlich forcierten, von über 1300 Bäuerinnen und Bauern unterstützten Strafanträge gegen das Umweltinstitut München und das Buch “Das Wunder von Mals” haben nur öffentliche Aufregung produziert. Der Buchautor Alexander Schiebel wurde freigesprochen, die Ermittlungen gegen seinen Verleger und den Vorstand des Umweltinstituts eingestellt und fast alle Strafanträge gegen mich zurückgezogen. Ich hoffe, dies führt zu einem konstruktiveren Umgang mit Kritikerinnen und Kritikern in Südtirol.”

Karl Bär hatte im August 2017 im Rahmen einer Kampagne des Umweltinstitut München den hohen Pestizideinsatz in den Südtiroler Apfelplantagen öffentlich kritisiert und wurde daraufhin von Landesrat Schuler sowie von mehr als 1370 Bäuerinnen und Bauern wegen übler Nachrede und Markenfälschung angezeigt. Nach der Teilrücknahme der Anzeigen geht das Verfahren gegen Bär am 29. Oktober weiter. Im weiteren Prozess sind insgesamt 88 Expert:innen zur Verteidigung des Umweltinstituts zugelassen, um die negativen Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen des hohen Pestizideinsatzes in den Südtiroler Apfelplantagen vor dem Landesgericht Bozen darzulegen. 

Der ebenfalls wegen angeblich übler Nachrede angeklagte österreichische Buchautor und Pestizidkritiker Alexander Schiebel war am 28. Mai in Bozen im Prozess freigesprochen worden. Der Richter begründete sein Urteil damit, dass der Tatbestand der üblen Nachrede nicht vorliege. Schiebel hatte in seinem Buch “Das Wunder von Mals” und in seinem gleichnamigen Film den hohen Pestizideinsatz in den Apfelplantagen der beliebten Urlaubsregion Südtirol scharf kritisiert. Rechtsanwalt Nicola Canestrini sieht in diesem Urteil ein positives Signal: "Der Freispruch von Alexander Schiebel ist ein wichtiger Sieg für das Grundrecht auf Meinungsfreiheit: Ein Rechtsstaat muss auch Äußerungen dulden, die wehtun, empören oder anecken. Ich erwarte, dass das Gericht auch im Fall Karl Bär erkennen wird, dass Kritik an Pestiziden absolut zulässig ist."

Hintergrund zum Prozess gegen Karl Bär:

Anlass der Klage gegen Karl Bär vom Umweltinstitut München war die provokative Kampagne „Pestizidtirol“ im Sommer 2017. In deren Rahmen platzierte die Münchner Umweltschutzorganisation ein Plakat in der bayerischen Hauptstadt, das eine Tourismus-Marketing-Kampagne für Südtirol sowie die Südtiroler Dachmarke satirisch verfremdete. Zusammen mit einer Website hatte die Aktion zum Ziel, auf den hohen Pestizideinsatz in der beliebten Urlaubsregion aufmerksam zu machen. In den Apfelplantagen Südtirols werden nachweislich große Mengen an natur- und gesundheitsschädlichen Pestiziden ausgebracht. Bis zu zwanzig mal pro Saison werden dort die Apfelbäume gespritzt. Für den Text auf der Website und die Verfremdung des Südtirol-Logos steht Bär nun seit September 2020 in Bozen wegen angeblich übler Nachrede und Markenfälschung vor Gericht.

Der Start des Pestizidprozesses gegen Bär in Südtirol löste im Herbst letzten Jahres eine Protestwelle in ganz Europa aus, in deren Verlauf sich über 100 Organisationen mit den Beklagten solidarisch erklärt und über 250.000 UnterzeichnerInnen mit ihrer Unterschrift die Einstellung der Verfahren gefordert hatten. Aufgrund des großen öffentlichen Drucks kündigte Landesrat Schuler im September 2020 an, alle Anzeigen zurückziehen und dafür die Vollmachten aller klagenden Bauern und Bäuerinnen einsammeln zu wollen. Allerdings gelang es dem Landesrat bis dato nicht, alle entsprechenden Vollmachten vorzulegen, weshalb der Prozess nun fortgeführt wird. Aus Sicht der Menschrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, weist die Klage gegen Bär alle Merkmale einer sogenannten SLAPP-Klage (strategic lawsuit against public participation) auf, die das Ziel verfolgt, unliebsame öffentliche Kritik zu unterdrücken.

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