Kultur: Wasser, Waal, Wall und Wool

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Die Vinschger sind weitum bekannt als gute Geschichten- und Märchenerzähler. In vielen Situationen reicht eine einzige Wahrheit aber nicht aus, den Sachverhalt ordentlich zu erklären, deshalb muss eine zweite oder dritte Version noch keine Lüge sein. Wo gestritten wird, wo es unterschiedliche Auffassungen gibt und wo mehr als eine Meinung Platz hat, wird viel weniger gelogen als anderenorts. Ein tatsächliches Märchen jedoch erzählt uns der Mythos über den Vinschger Sonnenberg. Die früher sehr geschäftstüchtigen Vinschger hätten alle schönen Eichen- und Lärchenstämme des Sonnenberges an die Venezianer verkauft und dafür einen trostlosen Berghang geschaffen. Ein anderes Märchen sähe die Vinschger Waale gern als eine Erfindung Roms. Die Römer jedoch kannten diese Art Wasserleitungen gar nicht, ihre Spezialität waren die Aquädukte für die Versorgung der städtischen Bäder und Brunnen. Der Name „Waal“, früher auch Wal oder Wall geschrieben, angeblich abgeleitet vom lateinischen „aqualis“, sollte den Zusammenhang herstellen. Tatsächlich aber gibt es weder in Rom noch im Lateinischen eine Wasserleitung oder einen Kanal namens „aquale“. Diese Bezeichnung ist eine Erfindung klösterlicher Schreibstuben viel späterer Zeiten. Ohne Zweifel hatten Römer, Etrusker und Griechen vereinzelte Bewässerungsgräben angelegt, aber kein ausgedehntes, weite Flächen überspannendes System wie wir es kennen. Dazu fehlten die politischen und sozialen Voraussetzungen. Die Ländereien Roms standen als große Besitzungen (Latifundien) im Eigentum weniger Familien, die Arbeiter auf den Feldern und in den Weinbergen waren nicht die Bauern, sondern Sklaven. Jener Typus Waale, wie wir sie kennen, sind eingebunden in ein System, sie sind eine Leistung vieler kleiner Grundeigentümer, welche sowohl den Bau als auch die Instandhaltung und den eigentlichen Betrieb in Eigenverwaltung übernehmen. Kleinteilige bäuerliche Besitzverhältnisse waren in christlichen Landen vor Ankunft der Muslime unbekannt. Aller Grundbesitz lag in Händen des Adels und der Kirche. Diese beiden Eigentümer existieren in muslimischen Ländern nicht.
Auf unserem Kontinent gibt es genaugenommen nicht mehr als fünf Standorte dieser Art der Bewässerung: In Andalusien, auf Sizilien, im schweizerischen Wallis, in Aosta, im Vinschgau und seinen unmittelbaren Nachbarräumen. In jedem dieser Gebiete hat sich ein eigener Name für die Wasserleitungen entwickelt: Ru in Aosta, Suonen oder Bisses im Wallis, Waale im Vinschgau (Bual oder Ual in Graubünden), Saja auf Sizilien und Acèquia in Andalusien. In den beiden ältesten und umfangreichsten Waal-Landschaften, Sizilien und Andalusien, sind die Benennungen aus dem Arabischen übernommen. Mit den spanischen Conquistadoren gelangte die „Acèquia“ später auch nach Süd- Mittel und Nordamerika. In Andalusien finden wir noch heute sehr viele, bis hoch hinauf in der Sierra Nevada angelegte Waale, die im Kontext kleinteiliger Landwirtschaft vor etwa 1000 Jahren errichtet und noch heute so verwaltet werden. Es gibt dort den Waaler (acequiéro) die Waalerhütte (caseta de acequiéro) und die „Róad“ (rota), einen durch alle Interessenten (Comunidad de Regantes) rotierenden Wasserbezugszeitraum. Die gemeinschaftliche Aufgabe zur Säuberung der Gräben im Frühjahr und die gemeinsamen sommerlichen Arbeitseinsätze zur Instandhaltung sind hier wie dort ein Merkmal der Waale und Acequias. In Valencia tagt seit dem Mittelalter jeden Donnerstag das „Wassergericht“ (Tribunal de las àguas), um alle Fragen rund um die Bewässerung zu besprechen und Weisungen zu erteilen. Dieses Tribunal setzt sich zusammen aus Vertretern der einzelnen Bewässerungsdistrikte, verhandelt seit muslimischen Zeiten ohne Protokoll und genießt trotzdem amtlichen Rechtsstatus.
Während die frühesten Bewässerungsanlagen in Tirol und Graubünden kaum vor dem 14. Jahrhundert entstanden sind, wurden die andalusischen „Waale“ schon viele Jahrhunderte früher angelegt. Das Wissen um die Bautechniken und Verwaltungsprinzipien gelangte von dort über das Piemont und das heute schweizerische Wallis auch zu uns. Die Präsenz der Sarazenen bzw. s29 wasserMuslime in den West- und Zentralalpen ist in mehreren Dokumenten nachgewiesen. Diese vor allem aus Nordafrika oder Spanien angekommenen „Berber“ spielen auch in der Wiederaufrichtung des Bergbaues und bei der Anlage neuer Trassen und Brücken der Alpenüberquerenden Handelswege eine wichtige Rolle.
Auf Sizilien wird die Zeit des dominio Arabo-Normanno, (ca. 800-1250) als die Blütezeit der Insel, als „Età d‘Oro“ bezeichnet. In genau jener Zeit wurden die bewässerbaren Terrassen und Gärten angelegt, Land- und Agrarreformen umgesetzt und erstmalig jene Produkte angebaut, die Sizilien noch heute charakterisieren.
Ein Märchen aus der Optionszeit erzählt uns, dass unfolgsame Südtiroler, die nicht nach Deutschland auswandern wollten, zur Strafe nach Sizilien gebracht würden! Es wäre zwar der größtmögliche Gegensatz anzunehmen, jedoch ganz so fremd hätte sich die Insel nicht präsentiert: Die Heiligen werden gleich feierlich herumgetragen wie hierzulande, bei Kirchenfesten wird geböllert und gekracht, die Obstgärten und Rebstöcke werden mit „Wasser-wâsser“ zum Blühen gebracht.
Erich Kofler Fuchsberg

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