Zum Hauptinhalt springen

Titel

„Im Netz arbeiten ist unser Credo“

von Erwin Bernhart (Interview)
Vinschgau - In der Weihnachtszeit laufen die Uhren anders. Das spüren auch viele Dienste in den Sozialdiensten in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau. Die Direktorin der Sozialdienste Karin Tschurtschenthaler lässt im Interview in die Herausforderungen blicken, die täglich und künftig zu bewältigen sind.
veröfftl. am 25. November 2025

"Was wir spüren, ist die Zunahme von konfliktbehafteten Situationen in Familien. In der Weihnachtszeit eskalieren sehr oft latent vorhandene Konflikte." Karin Tschurtschenthaler ist Direktorin der Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau.

Vinschgerwind: Wie verspüren die Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau die emotional aufgeladenen Zeiten vor Weihnachten?
Karin Tschurtschenthaler: Tatsächlich ist die Zeit vor Weihnachten etwas anders und emotional aufgeladen. Wir spüren diesen Umstand in einigen Bereichen mehr und in anderen weniger. Ein Beispiel: Im Bereich der Senioren und Seniorinnen spielt das Thema Einsamkeit durchaus eine Rolle und in der Vorweihnachtszeit wird Einsamkeit verstärkt gespürt. Als Dienst sind wir 365 Tage anwesend. Wir haben zum Beispiel einfache Hauspflegeleistungen an eine Genossenschaft ausgelagert. Da geht es genau darum, der Isolation und der Einsamkeit entgegenzuwirken.

Vinschgerwind: Eines ist die körperliche Gesundheitspflege und was Sie nennen, ist eher eine psychische Pflege?
Karin Tschurtschenthaler: Es ist eine Präventionsmaßnahme. Mit unseren abgestuften Angeboten im Seniorenbereich schaffen wir es, schon frühzeitig Hilfeleistungen anzubieten. Vom einfachen Kartenspiel bis zum Ratscher, einfach da zu sein, reichen diese Dienste, die von Männern und Frauen vor Ort angeboten werden.

Vinschgerwind: Sind diese Angebote in der Weihnachtszeit intensiver?
Karin Tschurtschenthaler: Es gibt Situationen, in denen die Angebote intensiviert werden müssen. Wir stellen fest, dass es die Großfamilie von früher heute nicht mehr gibt. Es gibt Kleinfamilien, kleinteilige Familien. Seniorinnen und Senioren spüren das als erste.

Vinschgerwind: Die Sozialdienste befassen sich auch mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Verspürt man im psychischen Bereich Veränderungen in diesen Zeiten?
Karin Tschurtschenthaler: Das verspürt man eindeutig. Unsere mehrjährige Erfahrung lehrt uns, dass wir präsenter sein müssen. Unsere Treffpunkte sind offen. Wir machen zum Beispiel jedes Jahr eine Silvesterfeier, zu der jeder kommen und bleiben kann, wie es ihm beliebt. Wenn mehrere Feiertage hintereinander fallen, dann ist das für Menschen, die psychisch nicht ganz so stabil sind, belastend. Deshalb sind unsere Treffpunkte, unsere Wohngemeinschaft Ankerpunkte. Die Angebote in den Feiertagen werden sehr gern angenommen. Wir stellen auch fest, dass bestimmte Süchte in den Feiertagen zunehmen, dass etwa der Alkoholkonsum steigt. Was wir noch spüren, ist die Zunahme von konfliktbehafteten Situationen in Familien. In der Weihnachtszeit eskalieren sehr oft latent vorhandene Konflikte. Wir haben ganz oft vor Weihnachten vermehrt Kinder und Jugendliche unterzubringen, weil die konfliktbeladene familiäre Situation nicht mehr zumutbar ist.

Vinschgerwind: Die Präsidentin der Bezirksgemeinschaft Vinschgau, Roselinde Gunsch, hat kürzlich in dieser Zeitung gesagt, dass die Betreuung von Familien in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Wie erklären Sie sich diese Zunahme?
Karin Tschurtschenthaler: Wir betreuen derzeit knapp 400 minderjährige Kinder mit ihren Eltern. Das ist viel. Wir erleben eine Zunahme. Die globalen Veränderungen, die Unsicherheiten, alles, was in der Welt da draußen passiert, spüren wir ja auch. Das geht nicht an den Vinschgau vorbei. Unsicherheiten kommen bei den Kindern und bei den Jugendlichen an. In der Tendenz tun sich junge Männer mit Umbrüchen und Unsicherheiten schwerer und zeigen dies anders als Mädchen. Buben sind ein Stück weit extrovertierter und zeigen das in Aggression, in Süchten, auch in Depressionen. Mädchen zeigen ihre Unsicherheiten anders: Sie ziehen sich tendenziell zurück. Wir beobachten Familien, die aufgrund der Unsicherheiten orientierungslos sind, Schwierigkeiten haben, Kindern Grenzen zu setzen.

Vinschgerwind: Werden spezielle Vorbereitungen für das Personal in den Sozialdiensten angeboten?
Karin Tschurtschenthaler: Wir bieten das ganze Jahr über Weiterbildungen, Supervisionen oder Intervisionen an. Als Betrieb ist es uns natürlich ein Anliegen, die Resilienz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken und auch genau hinzuschauen, wo was gebraucht bzw. benötigt wird. Wir sind bestrebt, Angebote zu schaffen, die hilfreich und nützlich sind, damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese oft schwierige Zeit auch gut bewältigen können.

Vinschgerwind: Ein anderes Thema: Südtirol ist ein reiches Land, auch der Vinschgau. Trotzdem ist Armut ein Thema im Lande. Auch im Vinschgau?
Karin Tschurtschenthaler: Armut ist auch im Vinschgau ein Thema. Wir spüren das in der finanziellen Sozialhilfe, in der finanzielle Leistungen ausgeschüttet werden können. Vor allem das Thema Altersarmut spielt eine Rolle und da vor allem bei Frauen, die überhaupt keine Rente beziehen. Weil Armut noch sehr schambehaftet ist, kommen die Menschen erst sehr spät zu uns, also erst dann, wenn es gar nicht mehr geht. Es gibt keine Selbstverständlichkeit in diesem Bereich.

Vinschgerwind: Welche Rolle spielen die Verwerfungen und die Einkommensminderungen in Covidzeiten?
Karin Tschurtschenthaler: Ich würde die Covid-Zeit gar nicht so sehr als Auslöser für Armut oder die Tendenz dahin sehen. Der auch im Vinschgau extrem teure Wohnraum und nicht mehr bezahlbare Mieten spielt eine große Rolle. Das Leben ist generell teuer. Ich gehe davon aus, dass die finanziellen Schwierigkeiten zunehmen werden.

Vinschgerwind: Warum?
Karin Tschurtschenthaler: Die Ersparnisse und die Eigentumswohnungen neigen sich. Die Jungen können sich eine Eigentumswohnung gar nicht leisten. Auch Erbschaften werden schwieriger.

Vinschgerwind: Wir haben einige Herausforderungen in der Weihnachtszeit angesprochen. Grundsätzlich: Sind die Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau gut aufgestellt?
Karin Tschurtschenthaler: Die Sozialdienste sind gut aufgestellt, ja. Wir haben ein breit gefächertes Angebot und wir schaffen es gut, die Bedürfnisse, die Bedarfe im Vinschgau abzudecken. Unser Zuständigkeitsgebiet reicht von Reschen bis Kastelbell-Tschars. Schnals wird von der Bezirksgemeinschaft Burggrafenamt abgedeckt.

Vinschgerwind: Der demografische Wandel, also das Älterwerden der Gesellschaft, wird durch Abwanderung junger Leute verstärkt. Was kommt da auf uns zu?
Karin Tschurtschenthaler: Unter Umständen wird es Pflegenotstände geben. Wir sind im Vinschgau noch in der glücklichen Lage, dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Aber wir merken, dass der Markt ausgedünnt wird. Die Sozialbetriebe im Vinschgau werben sich gegenseitig die Mitarbeiter ab. Ein Thema ist die Abwanderung in die Schweiz. Kein Wunder, wenn in der Schweiz das Dreifache verdient wird. Im Verhältnis dazu ist die anspruchsvolle Arbeit bei uns mäßig bezahlt. Unser Personal stellt sich auch die Frage der Schaffbarkeit der Arbeit, denn man ist überwiegend mit Randgruppen der Gesellschaft beschäftigt.

Vinschgerwind: Könne Sie der Vorstellung etwas abgewinnen, dass wir künftig von, sagen wir, afrikanischen Leuten gepflegt werden?
Karin Tschurtschenthaler: Ich denke, um künftig die Pflege von Seniorinnen und Senioren sichern zu können, wird es Menschen aus anderen Ländern brauchen. Rein rechnerisch schaffen wir das nicht mehr allein.

Vinschgerwind: Wenn es so sein wird, dass wir als Gesellschaft künftig auf Leute aus anderen Ländern angewiesen sein werden, wie schaffen wir es heute, mit Migranten umzugehen?
Karin Tschurtschthaler: Wir betreuen fast in allen Dörfern Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund. Unser Fokus liegt darin, diese Menschen gemeinsam mit Bildungseinrichtungen, Vereinen und vielen anderen Partnern zu integrieren und in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Derzeitig machen wir eine Mediatorenausbildung und für nächstes Jahr denken wir eine Ausbildung für den Sozialbereich an, um diese Menschen in die Arbeit bringen zu können.

Vinschgerwind: Tatsächlich arbeiten ja viele Menschen aus anderen Ländern in Vinschger Betrieben und füllen so fehlende Arbeitskräfte auf. Wird sich dies weiterentwickeln?
Karin Tschurtschenthaler: Davon gehe ich aus. Als Bezirk, als Sozialdienste werden wir unseren Beitrag für gute Integration leisten müssen. Auf der anderen Seite muss natürlich auch der Wille zur Integration vorhanden sein. Das ist ein langer Prozess, der bereits in der Schule beginnt. Da haben wir eine lange Wegstrecke vor uns. Wenn wir uns global umschauen, dann wird die Migration vielleicht anders werden, aber aufhören wird sie nicht.

Vinschgerwind: Ihr Zufruf aus Sicht der Sozialdienste für die Menschen in der Weihnachtszeit?
Karin Tschurtschenthaler: Unser Logo enthält den Satz „Mit Menschen wachsen“. Ich finde den Satz wichtig. Es geht tatsächlich um gemeinsam. Unser Bezirk kann nur gemeinsam wachsen. Ich möchte dazu auf unser Netzwerk hinweisen. Wir arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren im Tal zusammen, um die unterschiedlichen Bedarfe der Menschen decken zu können. Das Netzwerk, das getraue ich mich zu sagen, funktioniert gut im Vinschgau. Die Zusammenarbeit mit der Sanität, mit der Hauskrankenpflege, mit unterschiedlichen Genossenschaften, mit den Jugendzentren und mit vielen anderen mehr ist wichtig und sie funktioniert. Im Netz arbeiten ist unser Credo.