Der Start ins Leben hätte für Marianna beinahe tragisch geendet. „I war in erschtn Tog schun foscht verbrennt“, erzählt sie. Der Korb neben dem Eisenofen, in dem sie als Neugeborene lag, hatte plötzlich zu rauchen angefangen. Kurz bevor sich das Feuer entfachte, wurde sie gerettet. Als sie fünf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Genannt wurde sie von allen Anna.
von Magdalena Dietl Sapelza
An ihre Mutter hat Anna noch viele schöne Erinnerungen. „Si hot miar ollerhond zoag unt isch a Luschtige gwesn“, betont sie. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter kamen sie und ihr jüngerer Bruder in die Obhut ihrer Großmutter. Diese half auch dem Vater bei der Landwirtschaft, bis es zum Streit wegen einer Erbschaftssache kam. Daraufhin gab der erzürnte Vater die Kinder in fremde Hände, für 80 Lire Entschädigung pro Monat und Kind. Das war damals der übliche Tarif. Anna kam nach Mals zu einer Frau und ihr Bruder zu einem Bauern nach Muntetschinig. Anna besuchte zuerst die italienische Schule, und nachdem ihr Vater für Deutschland optiert hatte, die deutsche. Er verdiente sich inzwischen etwas Geld als Handlanger in der Schweiz. Als Neunjährige fand Anna auf einem Hof in Ulten einen neuen Platz. Doch schon nach einem Monat wurde sie wieder weggeschickt. „I hon sui zu viel gessn“, erklärt sie. Eine Malser Familie nahm sie auf. „Selm pan Noggler Leo hon i nor gessn unt gessn, weil olz guat gwesn isch“, schwärmt sie. Im Alter von zehn Jahren vermittelte sie der Vater an einen Bauern in Schleis, wo sie für die Kost arbeiten musste und er sich die 80 Lire ersparen konnte. Neben vielen anderen Arbeiten war es ihre Aufgabe Getreide zum Müller nach Laatsch zu bringen. „Im Wintr isches so eisig kolt gwesn, dass i miar di Gsichtshaut derfreart hon“, sagt sie. Im Kriegsjahr 1944 erkrankte Anna an Gliedersucht, eine Art rheumatische Erkrankung,. Da sie nichts mehr leistete, schickte sie die Bäuerin nach Hause. Dort hatte ihr Vater erneut mit der Landwirtschaft begonnen und eine Kuh gekauft. Auch ihr Bruder kehrte heim. Während der Vater in Bozen zeitweise für die Deutschen Militärdienst leistete, wirtschaften die beiden Geschwister allein auf dem Hof. „Miar sein froah gwesn, dass er weck gwesn isch, weil er koa Feiner gwesn isch“, bekennt sie. Zu Josephi 1944 war plötzlich ein ohrenbetäubendes Knallen zu hören. Später erfuhr Anna, dass Tiefflieger den Zug am Tatscher Bichl beschossen hatten. Es gab keine Opfer. Kurz darauf tauchten amerikanische Panzer auf. „Selm hon i s‘ erschte Mol an Schworzn gsechn“, erinnert sie sich. Die amerikanischen Soldaten hat sie in guter Erinnerung. Diese verteilten Süßigkeiten und Fleischkonserven. Irritiert war sie, als sie beobachtete, wie sich ein US-Soldat mit einem großen Lire Geldschein den Hintern putzte. „Der hot eppr inser Gelt nit kennt“, lacht sie. Bald darauf kehrte auch der Vater heim. Im Alter von 20 Jahren trat Anna ihre erste Wintersaisonstelle als Mädchen für alles in einem Hotel in Davos an. Im Sommer wurde sie daheim gebraucht. Es folgten viele weitere Wintersaisonen, so in Klosters und Gstad. Viel vom verdienten Geld gab sie daheim ab. Mit dem Rest richtete sie im Elternhaus einige Fremdenzimmer ein, die sie dann vermietete. Doch nachdem ihr Bruder geheiratet hatte und die Räume als Wohnung brauchte, kehrte Anna wieder in die Schweiz zurück, diesmal als Ganzjahreskraft. Als ihr Vater erkrankte, kehrte sie heim. Sie kümmerte sich um ihn bis zu seinem Tod 1975. Es folgten weitere Jahre im Gastgewerbe in Latsch, in Sulden, St. Valentin a. d. H., und schließlich bekam sie eine Anstellung in der Fürstenburg. Dann wurde ihr nach einer Routineuntersuchung Tuberkulose diagnostiziert. Es war ein Schock für sie. Fünf Monate verbrachte sie in einem Sanatorium in Brixen und ging dann in Frühpension. Sie war 56 Jahre alt und fühlte sich noch zu jung, um nichts zu tun. Sie hielt Hühner, strickte Sarner und übernahm einige Jahre lang die Pflege einer alten Dame. Selbst eine Familie zu gründen, war ihr nicht vergönnt, denn ihr Vater hatte jegliche Beziehungen verhindert. „Wegn di Buabm hon i oft Schleig kriagt“, verrät sie. „Dr Votr hot olm ogweihrt.“ Eine Heirat schien ihr auch wenig erstrebenwert aus Sorge, ihr Mann könnte sich genauso dominant entpuppen wie ihr Vater. Dankbar ist sie ihm, dass sie bis zu ihrem 92sten Lebensjahr in ihren eigenen vier Wänden in Tartsch leben konnte. „Nor honis alloan nimmr drpockt“, meint sie.
Im Dezember 2023 zog sie ins Malser Martinsheim. Dort fühlt sie sich wohl und versteht sich mit allen gut. Wenn sie Sorgen plagen, bittet sie den 1999 verstorbenen Segenspfarrer aus Wengen Heinrich Videsott um Hilfe, den sie als Malser Kooperator kennengelernt hatte. „In Videsott verehr i sehr, der hot miar oft schun gholfn“, betont sie. Zurückblickend auf ihr langes Leben meint sie. „Eppas, wos i nit versteah: Zersch war i bold verbrennt, unt iatz wear i asou olt.“